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Ethik in der Denkmalpflege und Restaurierung
Thomas Dempwolf

Es braucht das Zusammenwirken vieler Beteiligter, um das überlieferte Kulturgut zu schützen.
Die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit ist eine gemein­same Auffassung von Ethik in der Denkmalpflege. Darüber lohnt es sich zu reden und zu streiten.


Die Diskussion um die Ethik in der europäischen Denkmalpflege und Restaurierung ist so alt wie die Denkmalpflege selbst. In dieser Diskussion wird die Praxis reflektiert, um aus den Fehlern und Stärken der Vergangenheit zu lernen. Den entscheidenden Impuls für die heutige Diskussion stellt dabei die Charta von Venedig aus dem Jahre 1964 dar. Anlässlich der Bedrohung der Altstadt von Venedig wurde auf private Initiative hin der II. Internationale Kongress der Architekten und Techniker der Denkmalpflege abgehalten. Die Charta erreichte ihre internationale Bedeutung aufgrund der Tatsache, dass der rechtliche Schutz der Denkmale weltweit als unzureichend angesehen wurde. Bis heute gilt sie als Magna Charta der internationalen Denkmalpflege und als weltweit allgemein anerkannte Formulierung von Grundsätzen der Denkmalpflege und des Denkmalschutzes. In der Charta von Venedig wird als Ziel der Konservierung der „Erhalt eines Kunstwerkes, wie die Bewahrung des geschichtlichen Zeugnisses" formuliert, die dauernde Pflege sowie die Zuweisung einer der Gesellschaft nützlichen Funktion empfohlen. Restaurierung soll in diesem Verständnis eine "Maßnahme [bleiben], die Ausnahmecharakter behalten sollte. Ihr Ziel ist es, die ästhetischen und historischen Werte des Denkmals zu bewahren und zu erschlie­ßen. Sie gründet sich auf die Respektierung des überlieferten Bestandes und auf authentische Dokumente." Zu einer Restaurierung gehören demnach „vorbereitende und begleitende archäolo­gische, kunst- und geschichtswissenschaftliche Untersuchungen" genauso, wie eine genaue Dokumentation „in Form analytischer und kritischer Berichte, Zeichnungen und Photographien".


Da vieles in der Charta von Venedig allgemein formuliert und nur angerissen worden ist und es aus Sicht der Restauratoren vor allem an einer allgemeingültigen Beschreibung des Berufsbildes fehlte, wurde dies im Jahre 1984 von der internationalen Non-Profit-Or­ganisation ICOM (International Council of Museums) umgesetzt. Mit 30.000 Mitgliedern aus 137 Ländern unterhält ICOM formelle Kontakte zur UNESCO. Insbesondere die inter­nationalen Fachgruppen ihrer Unterorganisation ICOM-CC (International Commitee for Conservation) aus unterschiedlichen Disziplinen der Konservierung/Restaurierung bil­den ein wesentliches Rückgrat für den internationalen fachlichen Austausch zwischen den Restauratoren weltweit.
Nach dem Berufsbild der ICOM-CC besteht die Tätigkeit des Restaurators aus der technischen Objektuntersuchung, in der die Materialstruktur, der Grad des Verfalls, der Alterung und Materialverlust festgestellt und dokumentiert werden, der Umset­zung von erhaltenden Maßnahmen und der Konservierung/Restaurierung von Kul­turgut. Restaurierung ist demnach eine gezielte Aktion, um einen verfallenen oder beschädigten Gegenstand wieder verstehbar zu machen und das mit möglichst ge­ringem Verlust der ästhetischen und historischen Integrität. In einer aktualisierten Begriffsdefinition des Berufsbildes aus dem Jahre 2008 wird für alle diese Maßnah­men der Oberbegriff Konservierung benutzt. Darunter werden alle Maßnahmen und Aktivitäten verstanden, materielles Kulturgut zu sichern und es den heutigen und kommenden Generationen zugänglich zu machen. Unter dem Begriff Konservierung werden drei Bereiche zusammengefasst: Die präventive Konservierung, worunter alle indirekten Maßnahmen verstanden werden, die zum Erhalt von Kulturgut beitra­gen; die substanzerhaltende Konservierung, die bei Objekten angewandt wird, die vom Verfall bedroht sind, und die Restaurierung, die an einem Objekt angewandt wird, um es in seiner ursprünglichen Funktion und Ästhetik wieder verstehbar zu machen. Der Konservator /Restaurator hat bei seiner Tätigkeit eine besondere Ver­antwortung, da er es oft mit unersetzbaren Originalen zu tun hat, wobei der Wert nicht monetär zu verstehen ist, sondern in seiner Einzigartigkeit als authentisches historisches Zeugnis. Die Arbeit des Restaurators wird mit der Arbeit eines Chirur­gen verglichen, sie erfordert: "{ ... } zuerst eine manuelle Fähigkeit, die aber wie beim Gehirnchirurgen verbunden sein muss mit theoretischem Wissen und der Fähigkeit eine Situation einzuschät­zen, angemessen darauf zu reagieren und die Auswirkungen seines Handelns erfassen zu können."

Ausdrücklich betont wird in der Formulierung des Berufsbildes bei ICOM die Kommuni­kationsfähigkeit des Konservators/Restaurators und die Bereitschaft zur interdiszipli­nären Zusammenarbeit, da Entscheidungen über den Umgang mit einem Objekt immer zusammen mit anderen Experten, zumindest aber zusammen mit dem Kustoden, ge­troffen werden müssen. Aus meiner Sicht ist hier schon eine mit anderen Professionen kompatible Grundhaltung formuliert worden, die für die Diskussion um eine Ethik in der Denkmalpflege eine gute Basis bildet.
Als sich Anfang der 1990er Jahre die Europäische Vereinigung der Restauratorenver­bände (E.C.C.O.) gründete, in der auch der deutsche Verband der Restauratoren (VOR) organisiert ist, wurden in einem mehrjährigen Diskussionsprozess neue Berufsrichtli­nien und ein Standeskodex formuliert. In seinen Grundzügen nimmt das von E.C.C.O. formulierte Selbstverständnis Bezug auf die Charta von Venedig und die Richtlinien des ICOM. Während das von ICOM formulierte Selbstverständnis gegenüber der Charta von Venedig schon einen Perspektivenwechsel vom Objekt des Kulturgutes zum Subjekt des Restaurators aufwies, verstärkte sich diese Tendenz in den E.C.C.O.-Papieren.
In ihrer Dissertationsschrift Restaurierungsethik verglich Autorin Katrin/Janis die Dokumente von ICOM und E.C.C.O. miteinander. Sie kommt zu dem Schluss, dass das E.C.C.0.-Grundsatzprogramm dem Restaurator die (zentrale) Zuständigkeit für Er­haltung und Pflege von Kulturgütern zuweist. Gegenüber dem von ICOM formulierten Selbstverständnis, in dem von gemeinsamen Entscheidungen von Restauratoren und Kustoden ausgegangen wird, fordern die E.C.C.0.-Berufsrichtlinien nach Janis, die kon­krete „Restaurierungsentscheidung ausdrücklich in die individuelle Verantwortung des Restaurators zu legen". Obschon in den E.C.C.0.-Papieren gefordert wird, wenn nötig, mit anderen Spezialisten zusammenzuarbeiten, werde die Bedeutung interdisziplinärer Zusammenarbeit doch schwächer betont als bei ICOM. 

Die Anwendbarkeit der Restaurierungsethik in der Denkmalpflege
Weder die Prinzipien der ICOM-CC noch die von E.C.C.O. beziehen sich ausdrücklich auf die Baudenkmalpflege. Was sind die spezifischen Anforderungen in der Baudenkmalpfle­ge? Meine Kernaussage ist, dass es das Zusammenwirken vieler Beteiligter braucht, um das überlieferte Kulturgut effektiv zu schützen, dass die Aufgaben so mannigfaltig sind, dass eine Spezialisten-Gruppe alleine damit heillos überfordert wäre. In der Baudenkmalpflege werden in der Regel Objekte behandelt, die sich im öffentlichen Raum befinden und die in Gebrauch sind. Es sind Objekte, die vom Staat durch die Denkmalgesetze unter besonderen Schutz gestellt worden sind. Die Auseinandersetzung um den Erhalt des Kulturgutes fängt bereits im Vorfeld, im politischen Raum an. Dass eine Unterschutzstellung alleine oft nicht ausreichend ist, dass es in vielen Fällen zusätzlicher engagierter Auseinandersetzungen bedarf, um historisches Kulturgut zu er­halten, gerade wenn Interessen von Investoren oder Verkehrsplanern betroffen sind, das kennt jeder Beteiligte und in der Denkmalpflege Engagierte aus eigener Anschauung. Zu­allererst, bevor Denkmalpflege in die Praxis umgesetzt werden kann, geht es also um die Bewahrung oder Herstellung einer gesellschaftlichen Akzeptanz für den Erhalt von Kul­turgut. Diese Aufgabe übernehmen unter anderem gesellschaftlich aktive Gruppen wie Vereine, Kulturlobbyorganisationen, Berufsorganisationen sowie Standesverbände und allen voran die staatliche Denkmalpflege selbst.
Ihr kommt im Prozess der Erhaltung qua Gesetz die Schlüsselrolle zu. Nur eine star­ke Denkmalpflege, das heißt eine auch personell und fachlich gut ausgestattete Denk­malpflege, ist in der Lage, die Standards einer guten Konservierung/Restaurierung zu si­chern. Bedingt durch ihre zentrale Position kann sie dazu beitragen, die für den Erhalt der Objekte geeigneten Fachleute zusammen zu bringen und deren Arbeit zu koordinieren.
In der Praxis handelt es sich in der Baudenkmalpflege oft um komplexe, große Bauvorha­ben, die in der Regel von Architekten (in der Denkmalpflege) geplant und gesteuert wer­den. Als Generalisten sind sie in vielen Bereichen bewandert und dafür ausgebildet, die Vielzahl von Regelwerken zu beachten, um erfolgreich, objektschonend und wirtschaftlich zu arbeiten, zu kommunizieren und zu moderieren. Befinden sich Objekte im öffentlichen Verkehrsraum, so unterliegen sie statischen Anforderungen und Brandschutzbestimmun­gen. Dazu kommen rechtliche Vorschriften aus Bauverträgen, Gewährleistungszeiten und die gesetzliche Verpflichtung, die allgemein anerkannten Regeln der Technik anzuwen­den. (Anzumerken ist, dass sich die heutigen, allgemein anerkannten Regeln der Technik nicht immer für eine gute Denkmalpflege eignen - gut begründet gelingt es, im Interesse des Denkmals, Ausnahmen durchzusetzen.) Eine gute Planung beinhaltet immer auch eine frühzeitige Kooperation mit verschiedenen Fachleuten der Denkmalpflege. Dazu zählen wissenschaftlich ausgebildete Konservatoren/Restauratoren, Restauratoren im Handwerk, Tragwerksplaner in der Denkmalpflege, Bauphysiker und Bauchemiker, natur­wissenschaftliche Labore und Kunsthistoriker sowie Bauforscher.
In der Baudenkmalpflege hängt der Erfolg einer guten Konservierung/Restaurierung oft maßgeblich vom Grad der praktizierten lnterdisziplinarität ab. Daher ist es sinnvoll, über einen gemeinsamen Verhaltenskodex von allen Beteiligten nachzudenken und die­se Überlegungen nicht auf die Profession der Restauratoren zu beschränken.

Ethik in der Denkmalpflege
Im Folgenden möchte ich einige Gedankengänge zum Rahmen der Diskussion formulie­ren. Ich halte es für sinnvoll, sich in der gemeinsamen fachübergreifenden Diskussion zuallererst auf die Charta von Venedig zu beziehen und sie durch die Diskussionser­gebnisse der Restauratorenverbände zu bereichern. Auch wenn die Charta schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist, ist sie doch bis heute die einzige weithin anerkannte Formulierung einer Ethik in der Denkmalpflege. Sie hat nach wie vor Einfluss und ist weithin bekannt.
Mit der Unterschutzstellung von Kulturgut ist ein öffentliches Interesse am Erhalt for­muliert worden. Dies verlangt von allen an der Denkmalpflege Beteiligten, auch im Sinne des öffentlichen Interesses zu handeln. Ausgangspunkt der Formulierung eines Verhal­tenskodex für die in der Denkmalpflege Tätigen ist somit die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen im Umgang mit Kulturgut, das eigene Wissen für dessen Erhalt einzuset­zen, seine Meinung einzubringen, Maßnahmen zu widersprechen, die man für falsch hält und andere Spezialisten hinzuzuziehen, wenn es nötig ist.
Mit der Unterschutzstellung hat das Denkmal einen besonderen Status, als Kulturgut hat es eine Einzigartigkeit, der Rechnung getragen werden muss - Authentizität, Integ­rität und der Erhalt der historischen Dimension sind so weit wie möglich zu bewahren, Eingriffe sind reversibel zu gestalten. Wie auch bei ICOM formuliert, halte ich es für ge­boten, geplante Maßnahmen nach konservatorischen Notwendigkeiten zu staffeln. Zu­erst die Ausschöpfung der Mittel der präventiven Restaurierung, wenn das nicht reicht, die substanzerhaltende Restaurierung und als letztes Mittel die Form der Restaurierung zu wählen, bei der auch in die Struktur des Objekts eingegriffen werden muss.
Es ist wünschenswert, dass alle Beteiligten der Denkmalpflege ihr Wissen und ihr Können, ihre handwerklichen Fähigkeiten, ihre Kenntnis von wissenschaftlicher Analy­se, ihr ästhetisches Empfinden, ihre Erfahrung und - ja, auch - ihre Kreativität ganz in den Dienst der Konservierung stellen. Die Arbeit in der Denkmalpflege gründet sich auf Untersuchungsergebnisse; die eigene Geschicklichkeit und Erfahrung zeichnet sich da­durch aus, Historisches nach den oben genannten Parametern bewahren zu können.
Wie schon in der Charta von Venedig gefordert, sind alle Beteiligten in der Baudenk­malpflege heute qua Gesetz dokumentationspflichtig und haben alle Phasen des Objekt­zustandes so zu erfassen, dass sich Dritte daraus ein klares Bild machen können. In der Praxis ist dies gerade bei kleineren Bauvorhaben leider nicht selbstverständlich. Eine eingehende Voruntersuchung um solide Erkenntnisse vor Einleitung von Maßnahmen zu­sammen zu tragen, ist jedoch Voraussetzung für eine gute Konservierung.
Gerade in der Baudenkmalpflege gibt es viele Fragen, die nicht einfach durch Lehrsät­ze abzuhandeln sind. Es gibt fast immer eine Bandbreite von Entscheidungsmöglichkei­ten, für deren Umsetzung jeweils gute Gründe angefügt werden können. Gerade bei der Lösung solch kniffliger Probleme kann die interdisziplinäre Zusammenarbeit ihre Stär­ken zeigen. Um das Beste für die Bewahrung des Kulturgutes zu leisten, ist es wichtig, alle zur Verfügung stehenden Quellen zu nutzen, von Kenntnissen der verschiedenen Experten in der Denkmalpflege zu profitieren - der Kenntnis des Denkmalpflegers, des Kunst- und Technikhistorikers, von der Methodik der wissenschaftlichen Vorgehenswei­se des akademischen Konservators-Restaurators, vom Erfahrungsschatz des Restaura­tors im Handwerk, dem Verständnis des Tragwerkplaners und des Bauforschers, der Umsicht und Organisationsfähigkeit des Architekten und der Fähigkeit der Naturwissen­schaftler zur präzisen Analyse und, last but not least, vom Wissensstand des Hausmeis­ters, der das Objekt täglich vor Augen hat.
Die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit ist eine gemeinsame Auffassung von Ethik in der Denkmalpflege, es lohnt sich darüber zu reden und zu streiten. 

Erlauben Sie mir zum Schluss einen Exkurs zum Verhältnis von Restauratoren im Hand­werk und Restauratoren mit wissenschaftlichem Hintergrund. Es ist zu begrüßen, dass handwerklich ausgebildete und akademisch ausgebildete Re­stauratoren endlich angefangen haben, auf Augenhöhe miteinander zu reden. Sie erken­nen so, dass sie viele Gemeinsamkeiten haben und dass eine Zusammenarbeit dringend notwendig ist. Eine der Hauptgefahren bei Restaurierungsprojekten in der Baudenkmal­pflege ist der Eingriff durch nicht ausreichend qualifizierte Betriebe, wie er von Teilen des Zentralverbandes des Deutschen Handwerkes befürwortet wird. Handwerkliche Ausbildung und Erfahrung alleine, erlernt unter den Marktbedingungen einer industriali­sierten Welt, in der vieles mit Fertigmischungen und Baufertigteilen erledigt wird, befä­higt nicht zum Arbeiten in der Denkmalpflege. Gerade die Ausbildung zum Restaurator im Handwerk, die Pflege historischer Handwerkstechniken und deren Weitervermittlung an künftige Generationen sind ein wichtiger Garant, um auf Dauer die Handlungsfähig­keit in der Denkmalpflege zu sichern. Von einer anderen Richtung kommend, tragen die Hochschulstudiengänge zum Konservator/Restaurator dazu bei, die Konservierungs­praxis in der Denkmalpflege durch wissenschaftliche Herangehensweise zu verbessern. Die Wissenschaftlichkeit in der Konservierung kann aber die Pflege der handwerklichen Fähigkeiten nicht ersetzen, wohl aber ergänzen und gezielter im Sinne der Denkmalpfle­ge einsetzbar machen. Doch die Wissenschaftlichkeit würde umso effektiver werden, läge ihr mehr Kenntnis über den gesamten Bau- und Planungsprozess, über gesetzliche Vorgaben sowie über handwerkliche Praktiken und Erfahrungen zu Grunde.